29
William wurde sich seines Alters bewußt, als Kate ihn wegen seiner grauen Haare aufzog - vor nicht allzu langer Zeit hatte er sie noch zählen können - und als Richard Mädchen nach Hause brachte, die er hübsch fand. William gefielen beinahe alle von Richards jungen Damen, wie er sie nannte, vielleicht weil sie alle ein wenig Kate glichen, die er heute noch schöner fand als früher. Auch seine beiden Töchter Virginia und Lucy, die zu jungen Damen heranwuchsen, und Kate ähnlich waren, machten ihn sehr glücklich. Virginia entwickelte sich zu einer kleinen Künstlerin, und Küche und Kinderzimmer waren immer voll von ihren jüngsten Geniestreichen, wie Richard sie spöttisch nannte. Virginia rächte sich, als Richard Cellostunden nahm und selbst die Dienstmädchen unfreundliche Worte murmelten, wann immer der Bogen die Saiten berührte. Lucy verehrte ihre Geschwister und sah in Virginia einen neuen Picasso und in Richard den neuen Casals. William dachte oft darüber nach, was nach seinem Tod aus den drei Kindern werden würde. Kate fand, daß alle drei befriedigende Fortschritte machten; Richard, der jetzt St. Paul besuchte, durfte in einem Schülerkonzert das Cello spielen, während Virginias Malkünste so weit fortgeschritten waren, daß ein Bild im Wohnzimmer aufgehängt wurde. Aber als Lucy bereits mit elf Jahren kleine Liebesbriefe von Jungen erhielt, die sich bisher nur für Baseball interessiert hatten, wußte die ganze Familie, daß sie die Schönheit werden würde.
1951 wurde Richard in Harvard aufgenommen, obwohl er kein Stipendium für Mathematik gewonnen hatte, und Kate erinnerte William daran, daß Richard Cello und Baseball für St. Paul gespielt hatte, Leistungen, die William nicht einmal versucht hatte, zu vollbringen. Insgeheim war William stolz auf Richard, aber zu Kate murmelte er, daß er nur wenige Bankiers kenne, die Cello oder Baseball spielten.
Als die Amerikaner an einen dauernden Frieden zu glauben begannen, traten die amerikanischen Banken in eine expansive Periode. William war überarbeitet, und er schob die Bedrohung durch Abel Rosnovski und die damit verbundenen Probleme kurzzeitig in den Hintergrund.
Die Vierteljahresberichte von Thaddeus Cohen zeigten, daß Rosnovski einen neuen Kurs eingeschlagen hatte, den er offenbar weiter verfolgen wollte: durch einen Dritten wurde jeder Aktienbesitzer, mit Ausnahme von William, davon in Kenntnis gesetzt, daß er an Lester-Anteilen interessiert sei. William fragte sich, ob dieser Kurs zu einer direkten Konfrontation zwischen ihm und dem Polen führen würde. Allmählich kam er zu der Überzeugung, daß er den Vorstand von Rosnovskis Aktionen informieren mußte, ja, daß er vielleicht, wenn die Bank gleichsam belagert wurde, seinen Rücktritt anbieten mußte, was Abel den totalen Sieg verschaffen würde. Deshalb zog William diesen Schritt auch nicht ernstlich in Erwägung. Er beschloß, daß er um sein Leben kämpfen würde, wenn er es tun müßte, und wenn einer von ihnen dabei untergehen mußte, dann wollte er alles in seinen Kräften Stehende tun, um zu verhindern, daß dieser eine William Kane hieß.
Das Problem, was er mit Abel Rosnovskis
Investitionsprogramm tun sollte, wurde ihm schließlich aus der Hand
genommen.
Als Interstate Airways 1951 von der Federal Aviation Agency die
Erlaubnis für Flüge zwischen der Ost- und der Westküste erhielt,
lud man die Bank ein, diese neue Luftfahrtsgesellschaft zu
vertreten. Die Luftlinie wandte sich an Lester’s, als sie dreißig
Millionen Dollar benötigte, um das durch Regierungsverordnungen
vorgeschriebene Kapital vorzuweisen.
William hielt die Luftlinie und das ganze Projekt für eine gute
Sache und verbrachte viel Zeit damit, eine öffentliche Anleihe
aufzulegen, um die nötigen dreißig Millionen zu bekommen. Die Bank
stellte als Anleihegarant ihre gesamten Mittel hinter das Projekt.
Es war das größte Vorhaben, das William seit seiner Rückkehr zu
Lester’s in Angriff genommen hatte, und er wußte, daß sein
persönlicher Ruf auf dem Spiel stand. Als die Zeichnung im Juli
begann, war die Anleihe in wenigen Tagen placiert. William wurde
von allen Seiten gelobt und gepriesen, weil er die Angelegenheit so
gut in die Wege geleitet und so erfolgreich durchgeführt hatte. Er
selbst war beglückt über das Resultat, bis er aus Thaddeus Cohens
nächstem Bericht erfuhr, daß eine von Abel Rosnovskis
Scheingesellschaften zehn Prozent der Luftlinienanteile gekauft
hatte.
Jetzt wußte er, daß er Ted Leach und Tony Simmons seine schlimmsten
Befürchtungen mitteilen mußte. Er bat Tony, nach New York zu
kommen, lud beide Vizepräsidenten in sein Büro ein und erzählte
ihnen die Geschichte von Abel Rosnovski und Henry Osborne. »Warum
hast du uns das alles nicht schon früher erzählt?« war Tony Simmons
erste Frage.
»Als ich bei Kane and Cabot war, hatte ich mit hundert
Gesellschaften wie der Richmond-Gruppe zu tun, und ich ahnte damals
nicht, wie ernst er es mit seiner Rache meinte. Erst seit Rosnovski
zehn Prozent der Interstate Airways kaufte, weiß ich, daß es eine
fixe Idee von ihm ist.«
»Vielleicht mißt du den Dingen zuviel Bedeutung bei«, sagte Ted
Leach, »aber eines weiß ich genau: es wäre nicht klug, den
Aufsichtsrat darüber zu informieren. Das letzte, was wir ein paar
Tage nach dem Start einer neuen Gesellschaft wollen, ist eine
Panik.«
»Das stimmt«, sagte Tony Simmons. »Warum vereinbarst du nicht ein
Zusammentreffen mit diesem Rosnovski und sprichst dich mit ihm
aus?«
»Ich glaube, das ist genau das, was er gern möchte«, erwiderte
William. »Dann wäre er sicher, daß die Bank sich bedroht
fühlt.«
»Meinst du nicht, er würde seine Einstellung ändern, wenn du ihm
sagst, wie sehr du der Bank zugeredet hast, die Richmond-Gruppe
nicht fallenzulassen, und daß…«
»Ich habe keine Veranlassung zu glauben, daß er das nicht bereits
weiß«, sagte William. »Er scheint jedenfalls alles sonst zu
wissen.«
»Nun, und was, meinst du, soll die Bank bezüglich Rosnovski
unternehmen?« fragte Leach. »Wir können nicht verhindern, daß er
unsere Aktien kauft, wenn er einen Verkäufer findet. Wenn wir aber
unsere eigenen Aktien aufkaufen, spielen wir direkt in seine Hände;
der Wert seines Aktienpaketes würde steigen, und wir würden unsere
finanzielle Stellung gefährden. Vermutlich würde es ihn amüsieren
zuzuschauen, wie wir vom Regen in die Traufe kämen. Wir haben genau
die richtige Größe, um von Harry Truman aufs Korn genommen zu
werden, und nichts würde die Demokraten mehr freuen als ein
Bankskandal knapp vor den Wahlen.«
»Ich weiß, daß ich nicht sehr viel tun kann«, sagte William,
»andererseits wollte ich euch über das informieren, was Rosnovski
im Sinn hat, falls er mit einer neuen Überraschung
auffährt.«
»Meiner Ansicht nach wäre es immer noch möglich, daß die ganze
Sache harmlos ist und er einfach deine Talente als
Investitionsfachmann bewundert«, meinte Tony Simmons.
»Wie kannst du das sagen, da du doch weißt, daß mein Stiefvater an
der Sache beteiligt ist? Glaubst du, Rosnovski hat Osborne
angestellt, um meine Karriere zu fördern? Offensichtlich kennst du
Rosnovski nicht so gut wie ich. Ich beobachte ihn jetzt seit
zwanzig Jahren. Er ist es nicht gewohnt zu verlieren; er würfelt
einfach so lang, bis er gewinnt. Wenn er zu meiner Familie gehörte,
könnt ich ihn besser kennen. Er wird…«
»Hör auf, Gespenster zu sehen. William. Ich nehme an…«
»Was heißt Gespenster sehen, Tony? Denk daran, wieviel Macht unsere
Statuten jedem geben, der acht Prozent der Bankanteile besitzt.
Übrigens eine Klausel, die ich selbst haben wollte, um mich zu
schützen. Der Mann hat bereits sechs Prozent, und damit nicht
genug, könnte er Interstate Airways über Nacht platzen lassen,
indem er alle seine Anteile auf den Markt wirft.«
»Damit würde er nichts gewinnen«, sagte Ted Leach, »im Gegenteil,
er würde eine Menge Geld verlieren.«
»Glaubt mir, ihr versteht nicht, wie Abel Rosnovskis Gehirn
arbeitet. Er hat den Mut eines Löwen, und der Verlust wäre ihm ganz
gleichgültig. Ich bin sicher, daß er nur eines will: seine Rechnung
mit mir begleichen. Natürlich würde er Geld verlieren, wenn er die
Aktien abstieße, aber im Hintergrund hat er immer seine Hotels; es
gibt jetzt bekanntlich einundzwanzig. Wenn Interstate über Nacht
zusammenbricht, wäre das auch für uns ein Schlag, und das weiß er.
Das Bankgeschäft beruht auf dem wankelmütigen Vertrauen der
Öffentlichkeit - ein Vertrauen, das Abel Rosnovski jetzt zerstören
kann, wann immer es ihm Spaß macht.«
»Beruhige dich, William«, sagte Tony Simmons. »So weit sind wir
noch nicht. Jetzt, da wir wissen, was Rosnovski plant, können wir
seine Aktivitäten genauer beobachten und ihnen entgegentreten, wenn
es sein muß. Das erste, dessen wir uns vergewissern müssen, ist,
daß niemand seine Anteile verkauft, bevor er sie dir anbietet. Die
Bank wird jeden deiner Schritte unterstützen. Ich glaube immer
noch, daß du mit Rosnovski persönlich sprechen und die Sache
ausfechten solltest. Dann würden wir wenigstens wissen, wie ernst
es ihm ist, und können uns entsprechend vorbereiten.«
»Ist das auch deine Ansicht, Ted?« fragte William.
»Ja, ich glaube, Tony hat recht, du solltest mit dem Mann direkt
Kontakt aufnehmen. Es kann nur im Interesse der Bank sein
festzustellen, wie harmlos oder gefährlich seine Absichten wirklich
sind.«
William schwieg eine Weile. »Wenn ihr beide dieser Ansicht seid,
will ich es versuchen«, sagte er schließlich. »Ich muß hinzufügen,
daß ich anderer Meinung bin, aber vielleicht bin ich zu befangen,
um ein objektives Urteil abgeben zu können. Laßt mir ein paar Tage
Zeit. Ich werde mir überlegen, wie ich am besten an ihn herankomme,
und werde euch dann über das Resultat berichten.«
Nachdem die beiden Vizepräsidenten das Büro verlassen hatten, saß
William allein an seinem Schreibtisch und überlegte, was er zu tun
versprochen hatte; und er war sicher, daß er dort, wo Henry Osborne
seine Hände mit im Spiel hatte, kaum auf Erfolg hoffen konnte.
Vier Tage später saß William allein in seinem Büro; er hatte Weisung erhalten, daß er unter keinen Umständen gestört werden wollte. Er wußte, daß auch Abel Rosnovski im New York Baron in seinem Büro saß, denn er hatte einen Mann in das Hotel geschickt, dessen einzige Aufgabe es war, Abel Rosnovski zu beobachten. Der Beobachter hatte bereits angerufen; Abel Rosnovski war um 8 Uhr 27 am Morgen gekommen und direkt in sein Büro im 42. Stock gefahren. Seitdem war er nicht mehr gesehen worden. William nahm den Telefonhörer und ließ sich mit dem Baron-Hotel verbinden. »Hier spricht das New York Baron.«
»Bitte verbinden Sie mich mit Mr. Rosnovski«, sagte William nervös. Er wurde mit einer Sekretärin verbunden.
»Ich möchte Mr. Rosnovski sprechen«,
wiederholte er.
»Wen darf ich melden, bitte?«
»William Kane.«
Eine lange Pause trat ein. Oder schien sie William nur so lang?
»Ich bin nicht sicher, ob er im Haus ist, Mr. Kane. Ich werde
nachsehen lassen.«
Wieder eine lange Pause.
»Mr. Kane?«
»Mr. Rosnovski?«
»Was kann ich für Sie tun, Mr. Kane?« fragte eine sehr ruhige
Stimme mit einem leichten Akzent.
Obwohl William seine ersten Sätze sorgfältig vorbereitet
hatte,
merkte er, daß seine Nervosität durchklang.
»Ich mache mir ein wenig Sorgen über Ihre Anteile an der
Lester
Bank, Mr. Rosnovski«, sagte er, »und auch über die starke Stellung,
die Sie in einer Gesellschaft haben, die wir vertreten. Vielleicht
ist es an der Zeit, daß wir uns treffen und Ihre Absichten
besprechen. Es
gibt auch eine private Sache, die ich Ihnen gern mitteilen möchte.«
Wieder eine endlose Pause. Wurden sie unterbrochen?
»Es gibt keinerlei Umstände, die eine Aussprache zwischen
uns
rechtfertigen würden, Kane. Ich weiß bereits genug über Sie, ohne
daß
ich mir Ihre Entschuldigungen über die Vergangenheit anhören
muß.
Halten Sie die Augen offen, und Sie werden sehr bald feststellen,
was
meine Absichten sind. Sie sind sehr verschieden von jenen, die in
der
Bibel stehen, Mr. Kane. Eines Tages werden Sie aus dem 12. Stock
eines meiner Hotels springen wollen, weil Ihnen Ihre Anteile an
der
Lester Bank solche Sorgen machen. Ich brauche nur mehr
zwei
Prozent, um Paragraph sieben in Anwendung zu bringen, und
wir
wissen beide, was das heißt, nicht wahr? Vielleicht werden Sie
dann
begreifen, was es für Davis Leroy bedeutete, sich monatelang
zu
fragen, wie die Bank über sein Leben entscheiden würde. Jetzt
können
Sie sich hinsetzen und sich jahrelang fragen, was ich mit Ihrem
Leben
tun werde, sobald ich die nötigen acht Prozent habe.«
Bei Abel Rosnovskis Worten wäre William beinahe erstarrt,
aber
irgendwie gelang es ihm, ruhig weiterzusprechen, während er
wütend
mit der Faust auf den Tisch schlug. »Ich verstehe Ihre Gefühle,
Mr.
Rosnovski, aber ich glaube trotzdem, es wäre klug, wenn wir
uns
zusammensetzen und einmal über den ganzen Komplex sprächen.
Es
gibt ein, zwei Aspekte der Angelegenheit, die Sie unmöglich
wissen
können.«
»Zum Beispiel, wie sie Henry Osborne um
fünfhunderttausend
Dollar betrogen haben, Mr. Kane?«
Einen Augenblick war William sprachlos, dann wollte er
explodieren. Aber es gelang ihm nochmals, sich zu beherrschen.
»Nein, Mr. Rosnovski, worüber ich mit Ihnen sprechen möchte,
hat
nichts mit Mr. Osborne zu tun. Es ist eine persönliche Sache, und
sie
hat nur mit Ihnen zu tun. Dessenungeachtet versichere ich Ihnen,
daß
ich Henry Osborne nie auch nur um einen Cent betrogen habe.«
»Henrys Version lautet anders. Er sagt, Sie seien für den Tod
Ihrer
eigenen Mutter verantwortlich, um eine Schuld an ihn nicht
auszahlen
zu müssen. Nach dem, wie Sie Davis Leroy behandelt haben, halte
ich
das für durchaus glaubhaft.«
Nie war es William schwerer gefallen, seine Gefühle zu
beherrschen, und er brauchte ein paar Sekunden, bevor er antworten
konnte. »Darf ich vorschlagen, daß wir dieses ganze Mißverständnis
ein für allemal aufklären, indem wir uns an einem neutralen Ort
Ihrer
Wahl treffen, wo uns niemand erkennt?«
»Es gibt nur einen Ort, wo Sie niemand erkennen würde,
Mr.
Kane.«
»Und der wäre?«
»Im Himmel«, sagte Abel und legte auf.
»Verbinden Sie mich sofort mit Henry Osborne«, sagt er zu
seiner
Sekretärin.
Er trommelte mit den Fingern auf den Schreibtisch, während
man
fünfzehn Minuten brauchte, um Osborne zu finden, der, wie
sich
herausstellte, einige seiner Wähler durch das Kapitol geführt
hatte. »Abel, sind Sie es?«
»Ja, Henry, Sie sollen als erster erfahren, daß Kane alles weiß.
Jetzt
kommt es zum offenen Kampf.«
»Was heißt, er weiß alles? Glauben Sie, weiß er, daß ich damit
zu
tun habe?« fragte Henry ängstlich.
»Natürlich, und er scheint auch von dem Sonderkonto zu
wissen,
von meinen Anteilen an der Lester Bank und an Interstate Airways.«
»Wie konnte er alle diese Details erfahren? Nur Sie und ich
wissen
von dem Sonderkonto.«
»Und Curtis Fenton«, unterbrach ihn Abel.
»Ja, aber er würde Kane nie darüber informieren.«
»Offenbar doch. Sonst kommt niemand in Frage. Vergessen
Sie
nicht, daß Kane direkt mit Fenton zu tun hatte, als ich die
RichmondGruppe von seiner Bank übernahm. Vermutlich haben sie die
ganze
Zeit irgendeinen Kontakt aufrechterhalten.«
»Mein Gott.«
»Sie klingen besorgt, Henry.«
»Wenn William Kane alles weiß, dann schaut die Sache ganz
anders
aus. Ich warne Sie, Abel, er ist nicht gewöhnt zu verlieren.« »Ich
bin es auch nicht«, erwiderte Abel. »Und vor William Kane
habe ich keine Angst; nicht, solange ich alle Trümpfe in der
Hand
habe. Wieviel von Kanes Effekten haben wir im Augenblick?« »Soviel
ich auswendig weiß, haben Sie sechs Prozent der LesterBank, zehn
Prozent von Interstate Airways und ein wenig von diesen
und jenen Gesellschaften, an denen die Bank interessiert ist. Sie
brauchen noch zwei Prozent, um Paragraph 7 zu nutzen, und
Peter
Parfitt hängt noch immer an der Angel.«
»Ausgezeichnet«, sagte Abel. »Die Lage könnte nicht rosiger
sein.
Bleiben Sie im Gespräch mit Parfitt; wir haben keine Eile, denn
Kane
kann nicht einmal an ihn herantreten. Vorläufig soll Kane sich
den
Kopf zerbrechen, was wir vorhaben. Unternehmen Sie nichts, bis
ich
aus Europa zurückkomme. Nach meinem heutigen
Telefongespräch
mit Kane kann ich Ihnen versichern, daß er transpiriert, um
einen
vornehmen Ausdruck zu gebrauchen. Und ich transpiriere
nicht,
Henry. Er kann weiterschwitzen, denn ich werde mich erst
rühren,
wenn ich dazu bereit bin.«
»Gut«, sagte Henry. »Wenn auf meiner Seite irgend etwas
geschieht, das uns unangenehm werden könnte, benachrichtige
ich
Sie.«
»Sie müssen endlich einsehen, Henry, daß es nichts gibt, das
uns
unangenehm werden kann. Ihr Freund Mr. Kane ist uns ins
Netz
gegangen, und ich beabsichtige, es ganz langsam einzuholen.«
»Darauf freue ich mich«, meinte Henry und klang etwas fröhlicher.
»Manchmal glaube ich, Sie hassen Kane mehr als ich.«
Henry lachte nervös. »Gute Reise nach Europa.«
Abel legte den Hörer zurück und starrte vor sich hin, während
er
sich die nächsten Schritte überlegte. Er trommelte noch immer auf
die
Schreibtischplatte. Die Sekretärin kam herein.
»Verbinden Sie mich mit Mr. Curtis Fenton von der
Continental
Trust Bank«, sagte Abel, ohne sie anzusehen. Die Finger
klopften
weiter. Er starrte weiter ins Leere. Einen Augenblick später
schrillte
das Telefon.
»Fenton?«
»Guten Morgen, Mr. Rosnovski, wie geht es Ihnen?«
»Ich möchte alle meine Konten bei Ihnen schließen.«
Keine Antwort vom anderen Ende des Drahtes.
»Haben Sie mich gehört, Fenton?«
»Ja«, sagte der fassungslose Bankier. »Darf ich fragen, warum,
Mr.
Rosnovski?«
»Weil Judas nie mein Lieblingsapostel war, Fenton. Deshalb.
Von
diesem Augenblick an gehören Sie nicht mehr zum Aufsichtsrat
der
Baron-Gruppe. Demnächst erhalten Sie schriftliche Instruktionen,
an
welche Bank Sie meine Konten zu überweisen haben.«
»Aber ich verstehe nicht, warum, Mr. Rosnovski. Was habe ich…?«
Abel hängte auf, als seine Tochter ins Zimmer kam.
»Das klang nicht sehr freundlich, Daddy.«
»Es war auch nicht freundlich gemeint, aber darum mußt du
dich
nicht kümmern, mein Schatz.«
Abels Tonfall änderte sich sofort. »Hast du alle Kleider gekauft,
die
du für Europa brauchst?«
»Ja, danke, Daddy. Aber ich bin nicht sicher, was man in
London
und Paris trägt. Hoffentlich habe ich das Richtige gekauft; ich
möchte
nicht auffallen.«
»Du wirst bestimmt auffallen, mein Schatz, weil du das
Hübscheste
bist, das die Briten seit langem gesehen haben. Bei
deinem
Geschmack und bei deinem Gefühl für Farben werden sie merken,
daß
deine Kleider nicht von Woolworth stammen. Die jungen
Europäer
werden sich darum reißen, mit dir auszugehen, aber ich werde
dasein
und dich vor ihnen beschützen. Und jetzt gehen wir essen
und
besprechen dabei, was alles wir in London unternehmen wollen.«
Zehn Tage später - nachdem Florentyna ein langes Wochenende mit ihrer Mutter verbracht hatte, nach der sich Abel nie erkundigte - flogen die beiden von New York nach London. Der Flug in der Boeing 377 dauerte fast vierzehn Stunden, und obwohl sie eigene Schlafkojen hatten, waren sie bei ihrer Ankunft im Claridge so erschöpft, daß sie nur eines wollten - ordentlich ausschlafen.
Abel fuhr aus drei Gründen nach Europa: erstens, um einen Bauauftrag für neue Baron-Hotels in London, Paris und eventuell Rom zu unterschreiben; zweitens, um Florentyna Europa zu zeigen, bevor sie nach Radcliffe ging, um Sprachen zu studieren, drittens - und für ihn war das der wichtigste Grund -, um sein Schloß in Polen wiederzusehen und festzustellen, ob es vielleicht doch eine Chance gab, sein Besitzrecht nachzuweisen.
London wurde für beide ein großer Erfolg. Abels Ratgeber hatten einen Baugrund in der Nähe des Hyde Park Corner gefunden, und er beauftragte seine Anwälte, sofort alle notwendigen Schritte zu unternehmen, damit Englands Hauptstadt sich auch eines BaronHotels rühmen könnte. Florentyna fand die Sparmaßnahmen im Nachkriegs-London nach dem Luxus, den sie von zu Hause gewöhnt war, etwas bedrückend, aber die Londoner schienen unbeeindruckt davon, daß ihre Stadt halb zerstört war, und hielten sich immer noch für eine Weltmacht. Sie wurde zu Lunches, Dinners und Bällen eingeladen, und was ihre Kleider und die Reaktion der jungen Briten betraf, so hatte ihr Vater recht gehabt. Mit glänzenden Augen und Berichten von neuen Eroberungen kam sie jeden Abend nach Hause zurück - und am nächsten Morgen hatte sie alles vergessen. Sie konnte sich nicht entscheiden, ob sie einen Eton-Schüler von den Grenadier Guards heiraten sollte, der fortwährend salutierte, oder ein Mitglied des Oberhauses, der Lord in waiting königlicher Kammerherr - war. Florentyna war sich nicht ganz sicher, was »in waiting« bedeutete, aber jedenfalls wußte er, wie man eine Dame behandelte.
In Paris war es auch keine Minute langweilig, und da Abel und Florentyna gut französisch sprachen, kamen sie mit den Parisern ebenso gut aus wie mit den Engländern. Für gewöhnlich begann sich Abel nach der zweiten Ferienwoche zu langweilen und zählte die Tage, bis er zu seiner Arbeit zurückkehren konnte. Mit Florentyna als Reisebegleiterin aber war das anders. Seit seiner Trennung von Zaphia war sie zum Mittelpunkt seines Lebens und zur Alleinerbin seines Vermögens geworden.
Als der Abreisetermin näher rückte, hatte noch keiner von ihnen Lust, Paris zu verlassen; unter dem Vorwand, daß Abel noch immer in Verhandlungen über den Kauf eines berühmten, aber heruntergewirtschafteten Hotels auf dem Boulevard Raspail stand, blieben sie noch ein paar Tage. Abel klärte den Hotelbesitzer, der, wenn möglich, noch verfallener aussah als das Hotel, nicht darüber auf, daß er plante, das Gebäude abzureißen. Als Monsieur Neuffe einige Tage später die Papiere unterschrieb, gab Abel den Befehl, das Gebäude dem Erdboden gleichzumachen, während er, der jetzt keine Ausrede mehr hatte, schweren Herzens mit Florentyna nach Rom weiterfuhr.
Nach der Freundlichkeit der Briten und der Fröhlichkeit von Paris fanden sie die graue, verfallende Ewige Stadt bedrückend. Die Römer hatten keinen Anlaß zu feiern. In London waren Abel und Florentyna gemeinsam durch die herrlichen königlichen Gärten geschlendert, hatten historische Gebäude bewundert, und Florentyna hatte die Nächte durchgetanzt. In Paris hatten sie die Oper besucht, an der Seine zu Mittag gegessen, waren mit dem Schiff flußabwärts gefahren, vorbei an Notre-Dame, und hatten den Abend im Quartier Latin verbracht. In Rom spürte Abel nur ein überwältigendes Gefühl finanzieller Unsicherheit und beschloß, seine Pläne für ein BaronHotel in der italienischen Hauptstadt auf Eis zu legen. Florentyna spürte, wie ihr Vater darauf brannte, sein Schloß in Polen wiederzusehen, und schlug vor, Italien einen Tag früher zu verlassen.
Abel hatte feststellen müssen, daß es schwerer war, für sich und Florentyna ein Visum in einen Ostblockstaat zu bekommen als alle Bewilligungen zum Bau eines Fünfhundert-Zimmer-Hotels in London. Ein weniger hartnäckiger Besucher hätte vermutlich aufgegeben, aber Abel und Florentyna fuhren, die entsprechenden Visa im Paß, mit einem Mietauto nach Polen.
An der Grenze wurden sie stundenlang aufgehalten, und nur die Tatsache, daß Abel fließend polnisch sprach, verhalf ihm zu einer Einreiseerlaubnis. Abel wechselte fünfhundert Dollar in Zloty - das schien den Polen zu gefallen -, und sie fuhren weiter. Je näher sie Slonim kamen, desto klarer erkannte Florentyna, wieviel die Reise ihrem Vater bedeutete.
»Daddy, ich kann mich nicht erinnern, daß du jemals so aufgeregt warst.«
»Hier wurde ich geboren«, versuchte Abel zu erklären. »Nach so langer Zeit in Amerika, wo sich die Dinge täglich ändern, ist es fast surreal, hierher zurückzukehren, wo alles so aussieht, als hätte sich in all den Jahren nichts verändert.«
Sie fuhren weiter in Richtung Slonim. Abel war hin- und hergerissen zwischen Vorfreude und Wut über die Zerstörung der Landschaft und der hübschen kleinen Landhäuser. Über eine Zeitspanne von fast vierzig Jahren hinweg hörte er eine kindliche Stimme den Baron fragen, ob die Stunde der unterdrückten Völker Europas gekommen sei, und ob er einen Teil zu ihrer Befreiung beitragen könne. Tränen traten ihm in die Augen, als er daran dachte, wie kurz diese Stunde gewesen und wie klein die Rolle, die er gespielt hatte.
Als sie um die letzte Kurve fuhren und die
großen Eisengitter des Parks vor sich sahen, lachte Abel laut vor
Aufregung und hielt an.
»Es ist alles wie in meiner Erinnerung. Nichts hat sich verändert.
Komm, gehen wir zuerst zu dem kleinen Haus, in dem ich die ersten
fünf Jahre meines Lebens verbracht habe - vermutlich ist es heute
unbewohnt -, und dann werden wir mein Schloß anschauen.«
Florentyna folgte ihrem Vater, der zuversichtlich einen kleinen
Pfad zwischen moosbedeckten Birken und Eichen entlangging, der sich
vermutlich auch in hundert Jahren nicht ändern würde. Nach etwa
zwanzig Minuten kamen sie zu einer kleinen Lichtung, und vor ihnen
lag das Haus des Wildhüters. Abel stand da und starrte es an. Er
hatte vergessen, wie klein die Hütte war; hatten tatsächlich neun
Menschen darin gelebt? Das Strohdach war nicht ausgebessert, und
das kleine Haus mit den zerbrochenen Fensterscheiben machte einen
unbewohnten Eindruck. Der einst so ordentliche Gemüsegarten war
verwildert und nicht mehr zu erkennen.
War das Haus verlassen? Florentyna nahm den Arm ihres Vaters und
führte ihn langsam zur Tür. Abel stand bewegungslos davor;
Florentyna klopfte leise. Schweigend warteten sie. Florentyna
klopfte nochmals und etwas lauter. Im Haus bewegte sich
etwas.
»Schon gut, schon gut«, sagte eine heisere Stimme auf polnisch, und
eine Sekunde später öffnete sich ein Türspalt. Ein alte, ganz in
Schwarz gekleidete Frau, gebückt und abgemagert, musterte die
Besucher. Schneeweiße Haarsträhnen lugten unter dem Kopftuch
hervor, graue Augen schauten mit leerem Blick auf Abel und
Florentyna.
»Das ist nicht möglich«, sagte Abel leise auf englisch.
»Was wollen Sie?« fragte die alte Frau mißtrauisch.
Sie hatte keine Zähne, Nase, Mund und Kinn bildeten einen konkaven
Bogen.
Abel antwortete auf polnisch. »Dürfen wir hereinkommen und mit
Ihnen sprechen?«
Ängstlich wanderte ihr Blick von einem zum anderen. »Die alte
Helena hat nichts Böses getan«, sagte sie weinerlich.
»Ich weiß«, sagte Abel, »ich bringe Ihnen gute
Nachrichten.«
Widerwillig erlaubte sie ihnen, den kahlen, kalten Raum zu
betreten, ohne ihnen einen Stuhl anzubieten. Das Zimmer hatte sich
nicht verändert: zwei Stühle, ein Tisch und die Erinnerung, daß er
bis zum Verlassen das Hauses nicht gewußt hatte, was ein Teppich
ist. Florentyna schauderte.
»Ich kann das Feuer nicht anmachen«, jammerte die Alte und
stocherte mit einem Stock im Kamin. Das schwach glimmende
Holzscheit wollte nicht brennen, und sie suchte vergeblich in ihrer
Tasche. »Ich brauche Papier.«
Zum erstenmal schaute sie Abel mit einem Funken Interesse an.
»Haben Sie etwas Papier?«
Abel sah sie unverwandt an. »Erinnerst du dich an mich?«
»Nein, ich kenne Sie nicht.«
»Doch, Helena. Ich heiße… Wladek.«
»Sie kannten meinen kleinen Wladek?«
»Ich bin Wladek.«
»O nein«, sagte sie mit trauriger Bestimmtheit. »Er war zu gut für
mich, er trug das Zeichen Gottes. Der Baron nahm ihn fort, er
sollte ein Engel werden. Ja, er nahm Matkas Kleinsten…«
Die alte Stimme brach und verstummte. Sie setzte sich, die
abgearbeiteten müden Hände bewegten sich in ihrem Schoß.
»Ich bin zurückgekehrt«, sagte Abel dringlicher. Die alte Frau
betrachtete ihn nicht und fuhr fort, vor sich hin zu plappern, als
wäre sie allein.
»Sie haben meinen Jasio umgebracht und alle meine hübschen Kinder
in ein Lager geschafft, alle außer Sophia. Ich hab sie versteckt
und sie sind fortgegangen.«
Ihre Stimme war gelassen und resigniert.
»Was geschah mit der kleinen Sophia?« fragte Abel.
»Die Russen haben sie im Zweiten Krieg mitgenommen«, sagte sie
tonlos.
Abel zitterte.
Die alte Frau riß sich von ihren Erinnerungen los. »Was wollen Sie?
Warum stellen Sie mir so viele Fragen?«
»Ich möchte, daß Sie meine Tochter Florentyna
kennenlernen.«
»Einmal hatte ich eine Tochter, die hieß Florentyna. Aber jetzt bin
nur mehr ich übrig.«
»Aber ich…« begann Abel und öffnete sein Hemd.
Florentyna hielt ihn zurück. »Das wissen wir«, sagte sie und
lächelte die alte Frau an.
»Wie können Sie das wissen? Das alles geschah lang, bevor Sie auf
die Welt gekommen sind.«
»Man hat es uns im Dorf erzählt«, sagte Florentyna.
»Haben Sie vielleicht ein wenig Papier?« fragte die Alte. »Ich
brauche Papier für das Feuer.«
Abel schaute Florentyna hilflos an. »Nein«, sagte er, »leider haben
wir kein Papier mit.«
»Was wollen Sie hier?«
Die Alte klang wieder feindselig.
»Nichts«, erwiderte Abel und fand sich damit ab, daß sie ihn nicht
wiedererkennen würde. »Wir wollten Ihnen nur guten Tag
sagen.«
Er zog die Brieftasche und übergab ihr alles polnische Geld, das er
an der Grenze eingewechselt hatte.
»Danke, danke«, sagte sie bei jeder Note, und ihre alten Augen
wurden naß vor Glück.
Abel beugte sich vor, um seine Ziehmutter zu küssen, aber sie
wandte sich ab.
Florentyna nahm den Arm ihres Vaters, führte ihn aus dem kleinen
Haus und den Waldweg hinunter zum Auto.
Die alte Frau schaute ihnen aus dem Fenster nach, bis sie die
beiden nicht mehr sehen konnte. Dann nahm sie die neuen Banknoten,
zerdrückte jede Note zu einem kleinen Knäuel und legte sie
sorgfältig in den Kamin. Sie fingen sofort Feuer. Die Frau legte
Zweige und kleine Holzscheite auf die brennenden Zloty, setzte sich
zum Feuer, dem besten seit Wochen, und wärmte ihre Hände.
Auf dem Rückweg sprach Abel kein Wort, bis man wieder das Eisentor
sehen konnte. Er versuchte das kleine Haus zu vergessen und
versprach Florentyna: »Jetzt wirst du das schönste Schloß der Welt
sehen.«
»Hör auf, so zu übertreiben, Daddy.«
»Auf der ganzen Welt«, wiederholte Abel leise.
Florentyna lachte. »Wir werden sehen, wie es den Vergleich mit
Versailles aushält.«
Sie stiegen ins Auto, Abel fuhr durch das Tor und dachte an den
Wagen, in dem er das letztemal hier durchgefahren war. Sie fuhren
zwei Kilometer weit bis zum Schloß. Erinnerungen umfingen Abel.
Glückliche Kindheitstage mit dem Baron und Leon, unglückliche Tage,
als ihn die Russen von seinem geliebten Schloß wegbrachten und er
glaubte, es nie mehr wiederzusehen. Jetzt aber kehrte er, Wladek
Koskiewicz, zurück, kehrte im Triumph zurück, um sein Eigentum zu
fordern.
Das Auto fuhr die gewundene Einfahrt hinauf, und beide schwiegen
erwartungsvoll, als sie zur letzten Biegung vor dem Schloß des
Baron Rosnovski kamen. Abel hielt an und starrte auf sein Schloß.
Keiner sprach. Fassungslos schauten sie auf die ausgebombten
Ruinen.
Langsam stiegen Abel und Florentyna aus. Noch immer sprachen sie
nicht. Florentyna hielt die Hand ihres Vaters fest, während Tränen
seine Wangen hinabliefen. Nur eine Wand stand noch und erinnerte an
längst vergangene Pracht. Alles andere war ein Trümmerhaufen. Abel
war nicht imstande, seiner Tochter von den großen Hallen, den
Wohntrakten, den Küchen und Schlafzimmern zu erzählen. Abel ging zu
den drei Hügeln, die jetzt dicht mit Gras bewachsen waren: die
Gräber des Barons, seines Sohnes Leon und Abels geliebter
Florentyna. Vor jedem Grabhügel blieb er stehen und dachte daran,
daß Leon und Florentyna heute noch am Leben sein könnten. Er kniete
nieder, und die Erinnerung an die furchtbaren Augenblicke vor ihrem
Tod kehrte zurück. Seine Tochter stand schweigend neben ihm, ihre
Hand lag auf seiner Schulter. Eine lange Zeit verging, bevor Abel
aufstand. Gemeinsam kletterten sie über die Trümmer. Steinhaufen
markierten die Orte, an denen einmal herrliche, von Lachen erfüllte
Räume gewesen waren. Abel schwieg. Hand in Hand gingen sie in die
Kerker hinunter. Abel setzte sich auf den feuchten Boden nahe dem
winzigen Gitterfenster - oder dem, was von dem Gitterfenster noch
übrig war - und drehte und drehte den Silberreif an seinem
Arm.
»Hier hat dein Vater vier Jahre seines Lebens verbracht.«
»Das kann nicht sein«, sagte Florentyna, die sich nicht gesetzt
hatte.
»Heute ist es besser als damals. Jetzt gibt es frische Luft,
Vogelgezwitscher und das Gefühl der Freiheit. Damals gab es nichts,
nur Dunkelheit und Tod und den Geruch des Todes und - das
Schlimmste - die Hoffnung auf den Tod.«
»Komm, Daddy, gehen wir. Je länger wir hierbleiben, desto elender
fühlst du dich.«
Florentyna führte ihren widerstrebenden Vater zum Auto und fuhr
langsam den Weg hinunter. Als sie zum letztenmal durch das
schmiedeeiserne Tor fuhren, drehte sich Abel nicht mehr
um.
Auf dem Rückweg nach Warschau sprach er kaum ein Wort, und
Florentyna gab es auf, ihn aufheitern zu wollen. Als ihr Vater
sagte: »Jetzt bleibt mir nur mehr eines im Leben«, fragte sie sich,
was er wohl meinte, drängte jedoch nicht auf eine Erklärung. Es
gelang ihr, den Vater zu einem Wochenende in London zu überreden,
das ihn bestimmt aufheitern und vielleicht sogar seine alte,
verwirrte Ziehmutter und die Ruinen des Schlosses ein wenig
vergessen lassen würde.
Am nächsten Tag flogen sie nach London. Abel war froh, wieder in
einem Land zu sein, wo er rasch eine telefonische Verbindung mit
Amerika bekam. Als sie ihre Zimmer im Claridge bezogen hatten,
verschwand Florentyna, um alte Freunde aufzusuchen und neue zu
finden, während Abel, in der Hoffnung, sich über alles informieren
zu können, was sich in seiner Abwesenheit zugetragen hatte,
sämtliche Zeitungen durchlas. Er mochte das Gefühl nicht, daß
irgend etwas geschehen könnte, während er
nicht da war; zu deutlich erinnerte es ihn daran, daß die Welt auch
ohne ihn auskommen konnte.
Eine kleine Notiz in der Times vom letzten
Samstag erregte seine Aufmerksamkeit. Es geschahen doch Dinge,
während er nicht da war. Eine Vickers Viscount der Interstate
Airways war gestern morgen kurz nach dem Start in Mexiko City
abgestürzt. Siebzehn Passagiere und die Besatzung waren getötet
worden. Die mexikanischen Behörden beeilten sich, die Schuld auf
eine schlechte Wartung des Flugzeuges zurückzuführen. Abel nahm den
Telefonhörer und verlangte eine Verbindung mit Übersee.
Samstag ist er wahrscheinlich wieder in Chikago, dachte Abel. Er
blätterte in seinem kleinen Notizbuch nach der
Privatnummer.
»Sie müssen mit einer Wartezeit von etwa einer halben Stunde
rechnen«, sagte eine klare, angenehme englische Stimme.
»Danke«, erwiderte Abel, legte sich, das Telefon neben sich, aufs
Bett und überlegte.
Zwanzig Minuten später klingelte es.
»Ihr Gespräch nach Übersee«, sagte dieselbe präzise
Stimme.
»Abel, sind Sie es? Wo sind Sie?«
»Ich bin in London, Henry.«
»Sind Sie durchgekommen?« erkundigte sich das Mädchen.
»Ich habe noch nicht einmal angefangen«, sagte Abel.
»Entschuldigen Sie, Sir. Ich meine, sprechen Sie mit
Amerika?«
»Oh, ja, natürlich. Mein Gott, Henry, hier spricht man eine andere
Sprache.«
Henry Osborne lachte.
»Hören Sie zu. Haben Sie die Nachricht über den Absturz einer
Vickers Viscount der Interstate Airways in Mexiko City
gelesen?«
»Ja«, erwiderte Henry, »aber kein Anlaß, sich Sorgen zu
machen.
Das Flugzeug war voll versichert, es entsteht also kein Verlust,
und die Aktien haben sich nicht gerührt.«
»Die Versicherung interessiert mich nicht. Das ist eine gute Chance
für uns, einmal auszuprobieren, wie gut Mr. Kane beisammen
ist.«
»Ich glaube, ich verstehe Sie nicht, Abel. Was meinen
Sie?«
»Hören Sie gut zu. Ich will Ihnen erklären, was Sie Montag morgen,
wenn die Börse eröffnet, tun sollen. Dienstag bin ich wieder in New
York, um beim Finale mitzuspielen.«
Henry Osborne hörte aufmerksam zu. Zwanzig Minuten später legte
Abel ab.
Er war durchgekommen.